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Dienstag, 15. Juli 2014

Meine kleine Gedichtpolemik

Urner Seilbahnkabine mit Scheibengedicht. (Foto: zvg)
In den Urner Seilbahnen gibts derzeit (und bis in den Herbst 2015 hinein) Lyrik. Auf den Kabinenfenstern kleben Transparentfolien mit Gedichten. Das Projekt nennt sich "Mit Poesie auf Berg- und Talfahrt" - und weil es mir nicht gefällt, schrieb ich darüber in der Zeitung einen kleinen Artikel; gestern Montag ist er erschienen. Hier ist er zum Nachlesen, Zustimmen oder auch Widersprechen; man kann das sicher auch anders sehen.

Berge Neuerdings gibt es in der Seilbahn Gedichte.
Bleib zu Hause, Poesie 
Der Kanton Uri hat das dichteste Seilbahnnetz der Schweiz. Nun gibt es auf 33 seiner Linien Poesie – man steigt ein, setzt den Rucksack ab, die Kabine setzt sich in Bewegung, und man merkt, dass auf der Fensterscheibe eine Transparentfolie mit einem Gedicht klebt. Von Pedro Lenz etwa, von Gertrud Leutenegger oder Leo Tuor.

Die Aktion dauert bis in den Herbst 2015. Eine gute Sache, oder? Na ja. Man braucht kein Gedichtehasser zu sein, um sich an ihr zu stören. Vor Jahren hat ein Philosoph gesagt, unsere Gesellschaft leide unter Logorrhoe. Unter unkontrolliertem Sprachfluss, Wortdurchfall. Es wird immer mehr geredet, geschwafelt, getalkt, und auch das geschriebene Wort vermehrt sich viral. Facebook und Twitter laden zum Rund-um-die-Uhr-Mitteilen. Fremde Handygespräche terrorisieren einen überall. Und die Schülerinnen und Schüler im Bus quasseln in einem Tempo daher, das vor zwei, drei Jahrzehnten als krankhaft taxiert worden wäre. 

Die Natur bietet das Gegenprogramm. Man entzieht sich in ihr dem Dauerrauschen der Diskurse. Im Gebirge lockt ein neuer Luxus, ein rares Gut: Sprachlosigkeit; mal nicht reden, nicht zuhören, nicht lesen müssen. Allerdings multiplizierten sich auch die Kulturvermittler in letzter Zeit rasant. Weil die Städte überversorgt sind, gehen sie auf die Alpen los. Lokale Touristiker ziehen mit. So entstehen die Literaturwege mit Zitaten auf Tafeln. In Savognin zum Beispiel bekommt man rätoromanische Lyrik eines Paters vorgesetzt.

Nun sind also auch die Seilbahnen befallen, die doch Fluchtvehikel wären – nur fort aus dem Sprach- und Sprechdruck des Mittellandes. Man will die stille Stärke des Geländes geniessen, will in Fluhen schwelgen; stattdessen hat man Wörter vor Augen. Man entkommt ihnen in der Enge der Kabine nicht und liest notgedrungen – Dichterstress! – Folgendes: «In diesem Bergwald/ vielleicht nochmals beginnen/ zu unterscheiden/ den Fluglärm der Insekten/ vom Rascheln wenn sich/ Blütenblätter entfalten . . .» 

Ein schlechter Anfang ist das nicht. Ein Gedicht ist schliesslich mehr als Gelaber. Bloss ist das, was man draussen vor dem Fenster sieht, halt einfach sehr viel kraftvoller. Bleib zu Hause, liebe Poesie!

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