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Freitag, 15. Juli 2011

Der Möchte-Gern-Armenier

Rousseau, Armenier. Nach einem Gemälde (1766) graviert.
Meine heutige Wanderkolumne in der Zeitung behandelt die Route vom Val de Travers durch die Schlucht Poëta Raisse auf den Chasseron. Startort ist Môtiers. Und natürlich erwähne ich den Denker Jean-Jacques Rousseau, der sich dort 1762 bis 1765 aufhielt. Leider fehlte mir in der Kolumne der Platz für ein interessantes Detail: Rousseau trug in jener Zeit und auch in späteren Jahren leidenschaftlich gern armenische Tracht.
Der Orient fasziniert die gehobenen Stände im Zeitalter der Aufklärung. Handelsgesellschaften schaffen Ware aus der Türkei, Persien, Indien, China heran: Gewürze, Seidenstoffe, Waffen, Keramik, Schmuck. Jean-Etienne Liotard, ein Genfer wie Rousseau, malt um 1740 Europäer in Konstantinopel, die landesübliche Kleidung tragen. Diese Gepflogenheit sickert nach Frankreich durch. Im Café Procope in Paris tragen die Bediensteten plötzlich Armeniertracht.
Rousseau lässt sich inspirieren. Als er, verfolgt von der Obrigkeit und Kirche, in Môtiers im Kanton Neuenburg Zuflucht findet, trägt er nur noch Kaftan, einen gegürteten Rock und eine Art Turban. "Ich legte mir eine kleine armenische Garderobe zu", schreibt er in einem Brief. Überhaupt sind viele Schreiben erhalten, in denen er Kleider und Accessoires armenischer Herkunft ordert, unter Angabe seiner Körpermasse. Rousseau strebt danach, sich auch äusserlich von seiner Gesellschaft zu distanzieren.
Jean-Jacques Rousseau ist also nicht nur der Pionier der Ökologie, der Zivilisationskritik, des Sozialismus, sondern auch der intellektuellen Ethnoschwärmerei und der Ethnomode. Rousseau ist der Vorläufer heutiger Palästinensertuch-Träger und Pashmina-Schal-Trägerinnen.

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